Einmal tief seufzen, kurz in die Ferne schauen und schon rutscht die Verantwortung elegant von der Faktenebene in die Gefühlssphäre. Früher hieß das Ablasshandel. Heute nennt man es „psychische Belastung“, „Trigger“, „innere Prozesse“. Die Technik dahinter ist dieselbe: Entschuldigung ohne Veränderung, Schuldbefreiung ohne Bilanz.
Willkommen im Zeitalter der moralischen Selbstentschuldung einer Kulturtechnik, die erstaunlich kompatibel ist mit Führung, New Work und mental-health-bewusster Unternehmenskultur. Und genau deshalb so gefährlich.
„Wer Verantwortung loslassen will, verpackt sie am besten als Verletzlichkeit…“
Die Mechanik ist simpel genug, um als Muster zu taugen und subtil genug, um kaum je adressiert zu werden: Nicht die Handlung selbst wird verhandelt, sondern der psychische Zustand, in dem sie stattfand.
Da wurden Zusagen gebrochen, Budgets verschoben, Menschen verletzt, Werte elegant unterlaufen aber der eigentliche Fokus liegt später auf Sätzen wie:
„Ich war zu dem Zeitpunkt einfach am Limit.“
„Du weißt doch, wie viel Druck ich hatte.“
„Ich konnte gerade gar nicht anders reagieren.“
Die Botschaft dahinter ist fein dosiert:
Die Tat tritt zurück, das innere Erleben nach vorne. Wer es wagt, trotzdem über Verantwortung zu sprechen, bewegt sich plötzlich auf heiklem Terrain. Denn wer möchte schon der Mensch sein, der anderen ihre Überforderung abspricht.
So entsteht eine interessante Rollenverschiebung: Diejenigen, die real Schaden tragen beruflich, emotional, reputativ –, wirken schnell „überempfindlich“. Diejenigen, die Entscheidungen getroffen haben, verkaufen sich als verletzliche Systeme im Überlebensmodus.
„Wer sich geschickt als Opfer inszeniert, muss sich nie als Verursacher erklären…“
In einer reifen Kultur wäre Verantwortung ein schlichter Dreischritt:
Ich habe etwas getan.
Ich erkenne die Wirkung.
Ich übernehme Konsequenzen.
Die moderne Variante fügt zwei Zwischenschritte ein: Erstens den Monolog über die eigene innere Lage, zweitens die elegante Verschiebung der Bewertung auf die Reaktion des Gegenübers.
Nicht: „Das war falsch.“
Sondern: „Ich fühle mich jetzt sehr angegriffen, dass du mich so siehst.“
Damit wechselt das Thema. Weg von der Handlung, hin zur Empfindlichkeit der anderen. Es entsteht eine Art emotionaler Nebel, in dem die Frage nach Verantwortung immer abstrakter wirkt, je länger darüber gesprochen wird.
Sozialpsychologisch ist das eine bekannte Figur: Schuldumkehr über Emotionalisierung. Nicht durch Aggression, sondern durch Verletzlichkeit. Nicht laut, sondern leise.
Früher kaufte man sich durch Spenden, Rituale oder Bekenntnisse frei. Heute reicht oft ein gut kuratierter Opferbericht mit dem richtigen Vokabular. Statt Weihrauch: Buzzwords. Statt Beichtstuhl: Statusrunde.
Es klingt dann ungefähr so:
„Ich weiß, dass das unglücklich gelaufen ist, aber du kennst ja meine Geschichte…“
Natürlich gibt es reale Belastungen, Traumata, Überforderung. Niemand mit ernsthaftem Blick auf Menschen wird das bestreiten. Problematisch wird es dort, wo Belastung nicht mehr als Kontext, sondern als Freibrief genutzt wird für Entscheidungen, die andere tragen müssen.
Der eigentliche Trick:
Während die eine Seite sich öffentlich von Schuld entlastet, macht sich die andere leise Vorwürfe: War ich zu hart? Hätte ich mehr Verständnis zeigen müssen? Reagiere ich über?
Die moralische Buchführung kippt. Ausgerechnet diejenigen, die Schaden tragen, beginnen, sich zu rechtfertigen. Die, die ihn verursacht haben, sprechen über ihre innere Reise.
Man muss weder tief in Kindheitsdramen eintauchen noch Familienaufstellungen leiten, um die Wiederholung zu erkennen. Die Bühne wechselt, die Choreografie bleibt.
Im Familienkontext:
Wer Grenzen setzt, wird mit einem Hinweis auf frühere Entbehrungen konfrontiert.
Im Teamkontext:
Wer Missstände anspricht, hört, wie schwer es für die andere Seite gerade emotional ist.
Im Leadership-Kontext:
Wer auf Entscheidungen besteht, bekommt die umfassende Lage der inneren Welt serviert als hätte der Business-Case Gefühle als Pflichtbeilage.
So verschiebt sich die Norm:
Nicht, wer integer handelt, gilt als moralisch, sondern wer am überzeugendsten von seinem inneren Schmerz erzählt.
„Moral ist das, was nach außen glänzt und innen nach Ausrede riecht…“
Begriffe wie „toxisch“, „getriggert“, „Belastung“, „Überforderung“, „inneres Kind“ haben ursprünglich eine wichtige Funktion: Sie ermöglichen Sprache für Zustände, die schwer zu greifen sind. Sie sind Brücken.
In der Selbstentschuldungskultur werden diese Brücken gelegentlich zu Tarnnetzen.
Wer sagt: „Das war eine Belastungsreaktion“, beschreibt nicht mehr nur, was passiert ist. Er rahmt es so, dass Kritik automatisch härter wirkt als die Handlung selbst.
Neurowissenschaftlich ist das nachvollziehbar. Das Gehirn will Kohärenz. Es möchte, dass eigenes Verhalten als irgendwie verständlich erscheint. Man schützt die Selbstachtung, indem man die Tat in eine Geschichte einbettet, die das Ich entlastet.
Organisational wird es schwierig, wenn dieser Mechanismus unreflektiert zum Standard wird. Dann gilt irgendwann:
Nicht, wer Verantwortung übernimmt, ist „reif“,
sondern, wer sein Verhalten am tiefsten psychologisch erläutern kann.
Integrität wird zur Stilfrage. Wer sich besser erklärt, steht moralisch höher unabhängig von den Fakten…
Führungskräfte stehen damit vor einem Dilemma, das subtiler ist als jede Zahlenkrise:
Wie bleibt man empathisch, ohne manipulierbar zu werden?
Denn eines ist klar:
In einer Welt, in der psychische Gesundheit, Belastbarkeit und Trauma endlich ernst genommen werden, ist die Gefahr groß, dass niemand mehr das Risiko eingehen möchte, „unsensibel“ zu wirken. Die Schwelle, Verhalten klar zu adressieren, steigt.
Wer will derjenige sein, der sagt: „Das war falsch“, wenn die Antwort lauten könnte: „Du invalidierst gerade meine Geschichte“?
Reife Führung unterscheidet genau hier:
zwischen echtem Leid und instrumentalisierter Betroffenheit,
zwischen Unterstützung und Abnahme von Verantwortung,
zwischen menschlicher Wärme und moralischer Beliebigkeit.
Die Lösung liegt nicht in Zynismus. Wer jedes Belastungsthema als Ausrede abtut, ist nur die Kehrseite desselben Problems. Weder totale Härte noch grenzenloses Verständnis tragen.
Hilfreich ist ein Ton, der beides kann: sehen und benennen.
Ein paar unspektakuläre, aber wirksame Prinzipien:
Sprache und Wirkung entkoppeln
Jemand kann gleichzeitig überfordert gewesen sein und trotzdem Verantwortung tragen. Das eine erklärt, das andere relativiert nicht.
Konsequenzen nicht psychologisieren
Eine Entscheidung über Aufgaben, Rollen oder Zusammenarbeit ist keine Diagnose. Sie ist eine Reaktion auf Verhalten, nicht auf Wert oder Würde.
Opferstatus nicht belohnen
Wer dauerhaft nur über sich spricht, aber nichts ändert, braucht vielleicht Zuspruch aber nicht mehr Einfluss. Nähe ist kein Kriterium für Steuerung.
Humor als Spiegel, nicht als Waffe
Man darf über die Absurditäten moderner Selbstentschuldung lachen nicht, um Menschen zu demütigen, sondern um Mechanismen zu entzaubern.
„Wer sich selbst immer vom Haken lässt, hängt andere dafür auf…“
Ehrlicherweise betrifft das Thema nicht „die anderen“. Jeder Mensch kennt Momente, in denen der eigene Monolog über Gefühle bequemer ist als die nüchterne Frage: „Was habe ich tatsächlich getan?“
Die Qualität einer Kultur zeigt sich daran, wie selbstverständlich diese Frage gestellt werden kann, ohne dass jemand sofort ins innere Exil geht.
Darf jemand sagen: „Das war falsch“ ohne als herzlos zu gelten?
Darf jemand sagen: „Ich war überfordert“ohne dass alles entschuldigt ist?
Darf jemand Grenzen ziehen ohne als „nicht empathisch genug“ gebrandmarkt zu werden?
Die Antwort auf diese Fragen entscheidet, ob eine Organisation Konflikte lösen kann oder sie nur ästhetisch verpackt.
Moralische Selbstentschuldung ist kein Randphänomen. Sie ist die logische Folge einer Zeit, in der Innenleben wichtig geworden ist und gleichzeitig niemand auf Status, Image und sympathische Außenwirkung verzichten möchte.
Für Führung ist sie damit Test und Werkzeug zugleich:
Wer sie durchschaut, verliert die Angst, klar zu sein.
Wer sie ignoriert, bezahlt mit Glaubwürdigkeit.
Die Pointe ist unangenehm nüchtern:
Nicht der überzeugendste Schmerz erzählt die Wahrheit – sondern die konsequenteste Verantwortung.
Und wer das einmal verstanden hat, braucht weder Weihrauch noch Opfermonolog, um integer zu führen…